Die Heilkraft von Märchen

Probleme tauchen immer auf, im Märchen wie im Leben. Das Gute am Märchen ist: Dort werden sie gelöst.

Es war einmal eine Frau, die hatte sieben Kinder, aber das Jüngste hatte sie am allerliebsten, obwohl es nur so groß wie ein Daumen war. Sie lebte mit ihren Kindern in einem kleinen Haus am Rande des Waldes und in ihrem Garten blühten die Rosen neben den blauen Bohnen und der Phlox neben den Kartoffeln. Das kleinste Kind aber, weil es so zart war, saß während der Bohnenernte am liebsten auf der Schulter der Mutter und erzählte ihr Märchen. Eines Tages …“

Es blühten die Rosen neben den blauen Bohnen

Na, sind Sie schon mitgekommen in den kleinen Garten? Stehen Sie schon im Gras neben dem blühenden Phlox, riechen seinen Duft und schauen der Familie bei der Bohnenernte zu? Wenn ja, ist es Ihnen ergangen wie mir, wenn ich Märchen lese. Immer will ich wissen wie es weitergeht, in diesem Falle, was denn nun aus der Frau und ihren sieben Kindern wird, besonders aus dem kleinsten. Was passiert da eines Tages? Welche Probleme kommen auf sie zu und wie meistern sie diese?

Wer sich auf Märchen einlässt, wird auch viel über sich selbst erfahren. Und das gilt keineswegs nur für Kinder. Lösungen – und Herausforderungen, für die wir noch keine Konzepte haben. Märchen halten etwas bereit, das weit über das Begreifbare hinausgeht. Natürlich sind wir stolz darauf, als Erwachsene unser Leben zu meistern. Wir sind stolz auf unser Können, unseren Verstand, unsere Erfahrungen. Doch spätestens, wenn wir uns in einer Krise befinden, ist unser Latein schnell am Ende. Ob es der Tod eines nahen Menschen ist, der Verlust von Einkommen, eine Krankheit oder eine Pandemie.

Wenn es darum geht, sich ganz neuen Herausforderungen zu stellen, für die wir noch keine Konzepte haben. „Wer kann da lustig sein, wenn’s einem an den Kragen geht?“¹ Genau solche Situationen aber beschreiben Märchen. Da ziehen Menschen in die Welt, aus Liebeskummer, Hunger, Not, schierer Verzweiflung. Sie wollen, sie müssen etwas ändern. Ihr Leben ist aus den Fugen. Sie riskieren einen Schritt ins Unbekannte, denn „etwas Besseres als den Tod findest du überall“².

Den Mutigen gehört die Welt

Zu meinem sechsten Geburtstag erhielt ich ein kostbares Geschenk: den „Neuen Deutschen Märchenschatz“. Ihn hatte meine Mutter im Mai 1945 mitgenommen, als sie ihre Heimat Böhmen verlassen musste. Da war sie 17. Sie hat dieses große und schwere Buch tatsächlich drei Monate lang mit sich herumgeschleppt, zu Fuß, in einer Zeit, in der es jeden Tag ums Überleben ging, um ein Stück Brot, einen Schluck Wasser, einen Schlafplatz. Warum das Buch? Ich habe sie später danach gefragt. Ihre Antwort: „Ich brauchte Märchen. Sonst hätte ich das alles nicht durchgehalten.“

Doris Bewernitz ist freie Schrift­stellerin, Autorin zahlreicher Bücher und hat diverse Literaturpreise erhalten.

Den ganzen Beitrag finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 6/2021

Diesen Artikel teilen

Weitere Beiträge

Hier bin ich richtig

Wie lange wir oft unterwegs sind, um das Glück des Ankommens zu erfahren! Doch allein für diesen Moment hat sich die Anstrengung gelohnt.

Diesen Artikel teilen

Schamanische Naturrituale

In der Natur zu sein, gehört zu den heilsamsten Erfahrungen, die wir machen können. Die Erde ist unsere wahre Heimat. Sie ermöglicht unser Leben, bietet gleichzeitig so viel Schönheit und Tiefe und zeigt, wie wir uns wieder unserer Wurzeln bewusst werden. Bevor ich mit diesem Artikel begonnen habe, bin ich auf unserem nahegelegenen „Haushügel“ spazieren gegangen. Der Frühling braust in vollen Zügen über das Land hinweg und die Pflanzen sprießen überall in strahlendem Grün hervor. Meist setze ich mich für eine Weile unter meine Lieblingseiche. Ich habe ihr sogar einen Namen gegeben und „unterhalte“ mich nur allzu gerne mit ihr. Jedes Mal bin ich nach einem Besuch bei diesem alten stattlichen Baum viel entspannter und beseelter. Das Bedürfnis, in der Natur zu sein, ist … nun ja, eigentlich nur natürlich. So ist es vorgesehen und so haben wir Jahrtausende verbracht. Durch diese Zeiten hinweg, in der die Natur noch deutlich gefühlt unsere Mutter war, waren wir geborgen im Netz der lebendigen Dinge und Wesen. Alles war beseelt. Und immer noch ist alles beseelt … Egal, wie weit weg wir uns von einer naturnahen Lebensweise bewegt haben und in künstlichen Welten unterwegs sind: Wir sind Teil des großen irdischen Lebensnetzes. Um

Diesen Artikel teilen

Schreiben Sie einen Kommentar