Glaube, Liebe, Hoffnung

Auf einmal ändert sich alles, ist nichts mehr wie zuvor. Der Boden unter den Füßen wankt und ein Leben in festen Bahnen gerät aus den Fugen. Josef Epp darüber, wie er in schweren Lebenskrisen seinen inneren Kompass neu ausrichtete und worin er seinen inneren Halt bis heute findet

Auf einmal ändert sich alles, ist nichts mehr wie zuvor. Der Boden unter den Füßen wankt, ein Leben in festen Bahnen gerät aus den Fugen. Gewissheiten lösen sich auf. Ich habe das erlebt. Ich fühlte mich geborgen und getragen von einer liebevollen Beziehung. Als sich dann der Kinderwunsch erfüllte, schien das Glück ungetrübt und sinnerfüllt. Doch ich führte nicht uneingeschränkt Regie. Das musste ich lernen.
Johanna, unsere älteste Tochter, war nicht so wie andere Kinder. Unklar die Diagnose, ein genetisches Syndrom, hieß es. Entwicklungsverzögerung, Herzfehler, Minderwuchs, später eine Epilepsie, ein schwaches Immunsystem. Das alles waren markante Einschränkungen. Doch wir lernten damit zu leben. Die tiefe Emotionalität von Johanna, ihre Lebensfreude und ihr Kampfgeist bereicherten uns. Die liebevolle Wärme, die sie schenken konnte, prägte uns. Zwei weitere gesunde Kinder kamen zur Welt, wir fühlten uns wohl in unserem Umfeld und gestalteten ein Leben, das Freude schenkte. Doch dann zeigte sich erneut die Verletzlichkeit unserer glücklichen Tage.
Als meine Frau nach der dritten Schwangerschaft nicht mehr zu Kräften kam, ließ sie sich gründlich untersuchen. Wenige Tage später traf uns eine dramatische Diagnose: Schwere Erkrankung des Herzmuskels. Nur noch ein geringes Leistungsvermögen des Herzens. Einzige Möglichkeit: eine Transplantation.

Auf einmal war ich allein für alles verantwortlich

Ein „Hammer“, der in einem Augenblick alles änderte. Eine Familienpflegerin kam ins Haus, vielfach unterstützt von der Oma. Der Alltag musste gänzlich neu organisiert werden, auf einmal war ich allein für alles verantwortlich. Meine Frau durchlief belastende Untersuchungen, war in vielen Kliniken, musste sich zu Hause schonen. Nach einem halben Jahr stand sie dann auf der Transplantationsliste, nach 13 Monaten kam der Anruf, dass ein Organ gespendet wurde. Wir flogen abends nach Berlin und meine Frau bekam in einer 14-stündigen komplikationsreichen Operation ein neues Herz.
Nach anfänglich guter Genesung hatte sie dann aber mit immer heftigeren Abstoßungsreaktionen zu kämpfen. Drei Monate nach der Transplantation verstarb sie, ohne einmal zu Hause sein zu können, ohne die Kinder nochmals zu sehen. Die waren zu dem Zeitpunkt sechs, vier und zwei Jahre alt.

Am Beginn eines neuen Weges

Als ich in Berlin ankam, war meine Frau bereits verstorben. Ich nahm Abschied von ihr, ohne zu begreifen, was geschehen war. Eine Tür ging auf und die Pastorin der Klinik kam zu mir. Sie hatte meine Frau in den letzten Tagen begleitet.Jetzt stand sie auch mir zur Seite. Das tat gut.
Tags darauf erwarteten mich zu Hause drei lachende Kinder. Der Abend mit ihnen bleibt mir unvergesslich. Es war der Beginn eines neuen Weges. Wir wagten die ersten Schritte. Ich veränderte mich beruflich, um der Familie nahe zu sein. Ich kämpfte an vielen Fronten. Johanna war stets ein Sorgenkind, immer wieder kam es zu Klinikaufenthalten. Doch ich erlebte auch hier viel Unterstützung. Eine geniale Kinderfrau war drei Nachmittage für die Kinder da. Einige gute Freunde zeigten hilfreiche Nähe, andere entfernten sich nach und nach. Dass im Laufe der Zeit eine neue Partnerschaft wuchs, war ein besonderes Geschenk. Zart und verborgen, leise und behutsam. Beglückend auch die beständig wachsende freundschaftliche Offenheit meiner Kinder für meine neue Partnerin Sigrid.

Da kam mir eine Gedicht in den Sinn

Johanna und ich waren ein eingespieltes Team, die beiden anderen verließen zum Studium das Elternhaus. Ich plante die neue Lebensgemeinschaft mit Sigrid. Da erlitt Johanna mit 26 Jahren nachts einen schweren epileptischen Anfall mit Atemstillstand. Der Notarzt hatte Mühe mit der Reanimation. Schnell wurde klar: Johanna wird den Tag nicht überleben. Ich saß fünf Stunden an ihrem Bett. Sie wurde beatmet, und ich konnte das Absinken der Werte auf dem Monitor verfolgen. Bis zur Nulllinie im EKG saß ich da und nahm wieder Abschied.Da kam mir ein Gedicht von Reiner Kunze in den Sinn, das er für seine Frau geschrieben hat. Es heißt „Bittgedanke, dir zu Füßen“:

Stirb früher als ich,
um ein weniges früher.
Damit nicht du
den Weg zum Haus
allein zurückgehn musst

Dieses Gedicht rührte mich an. In eine der dunkelsten Stunden meines Lebens drang ein Lichtstrahl: Johanna wäre am Verlust ihres Vaters zerbrochen … das blieb ihr erspart.
Und dann musste meine neue Partnerin auf einmal mit zwei Krebserkrankungen kämpfen. Als hätte es noch nicht gereicht! Doch die Schicksalsschläge beugten aber bezwangen mich nicht. Der Boden unter mir wankte, aber ich ging nicht unter. So gab es an vielen Punkten meines Weges ausreichend Anlass, am Sinn des Lebens nicht nur zu zweifeln, sondern ihn zu verlieren. Auf die Frage, wie ich mich immer wieder aufrichten konnte, fällt mir die Antwort schwer. Ich kann es nur erahnen.

Eine sinnstiftende Erfahrung

Ich habe erfahren, dass Sinn kein Besitzstand ist, über den man verfügt, und von dem man bei Bedarf abbucht. Er kann unerwartet verloren gehen und sich genauso unerwartet neu erschließen. Mir wurde klar, dass Sinn viel mit Bedeutung zu tun hat. Wenn Ereignisse für mich bedeutungslos und absurd bleiben, verschließt sich Sinn. So schmerzlich es war, ein Kind mit Behinderung anzunehmen, so weiß ich heute, dass es mir neue Wertigkeiten erschlossen hat, dass ich empathischer für Menschen wurde, die hilfsbedürftig und weniger leistungsfähig sind. Eine sinnstiftende Erfahrung.
Josef Epp

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2023

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