“Sinn wird erlebbar, wenn wir umsetzen, was uns wichtig ist”

Tatjana Schnell ist Sinnforscherin und spricht mit uns über ihre Erkenntnisse und die Bedeutung eines sinnerfüllten Lebens.

Frau Schnell, warum brauchen wir einen Sinn im Leben?

Sie beginnen mit einer interessanten Frage: Brauchen wir einen Sinn im Leben? Nicht unbedingt: Es gibt viele Menschen, die – zumindest über längere Zeiträume – ohne Lebenssinn leben, und die nicht darunter leiden. Für andere ist ein Leben ohne Sinn kaum vorstellbar. Was wir aus der Forschung wissen, ist Folgendes: Mit Lebenssinn sind wir lebendiger, motivierter. Wir treten ein für das, was uns wichtig und richtig erscheint. Das kann herausfordernd sein; allerdings machen wir so auch wichtige Erfahrungen: Wir erleben uns als selbstbestimmt, kompetent und sozial eingebunden – was wiederum mit Glücksgefühlen einhergeht. Sinnerfüllung ist die grundlegende Annahme, dass das Leben lebenswert ist. Das gibt uns auch einen besseren Stand, wenn es darum geht, mit Krisen umzugehen. Allerdings möchte ich davor warnen, Sinn nur zu verstehen als etwas, das wir „brauchen können“. Vielmehr ist es eine Lebenshaltung, die nicht nur den eigenen Nutzen im Blick hat.

Was sind für Sie die wichtigsten Quellen des Lebenssinns?

Sinnquellen lassen sich in fünf Bereiche zuordnen. Selbstverwirklichung, Wir- und Wohlgefühl, Ordnung, Orientierung an einer höheren Macht, Verantwortung für das größere Ganze. Aus der großen Zahl von Studien, die wir durchgeführt haben, ist deutlich geworden: Es gibt viele Wege zum Sinn, nicht nur den einen. Allerdings zeigen sich einige Muster, die mit höherem Sinnerleben zusammenhängen: Wenn wir aus mehreren Sinnquellen schöpfen, ist unser Sinn stabiler. Dabei scheint es wichtig zu sein, dass mindestens drei der oben genannten fünf Bereiche abgedeckt sind. Und dass mindestens eine der letzten beiden eine Rolle spielt: Menschen, die Verantwortung für das größere Ganze übernehmen und/oder sich an einer höheren Macht orientieren, üben sich darin, von sich selbst abzusehen. Das scheint für das Sinnerleben besonders förderlich zu sein.

Was zeichnet ein sinnerfülltes Leben aus?

Sinnerfüllung beruht auf vier Komponenten. Da ist die Erfahrung, dass unser Leben stimmig ist: dass wir die Person sein können, als die wir uns erleben, dass wir unsere Werte umsetzen können, uns nicht verbiegen müssen. Zweitens geht es um die Erfahrung, dass unser Dasein etwas zählt, dass wir gesehen werden und etwas beitragen können. Drittens ist es wichtig, die Richtung zu kennen, in die wir gehen wollen. Diese Orientierung ist besonders relevant, wenn wir vor Entscheidungen stehen, und wenn es darum geht, für etwas einzutreten. Und zuletzt geht es um Zugehörigkeit: Wenn wir das Gefühl haben, nirgends hinzugehören, dann ist Sinnerleben sehr schwierig. Diese vier Merkmale ergeben sich aus einer angemessenen Verbindung mit meinem sozialen Umfeld. Ich kann sie nicht allein „herstellen“.
Für viele besteht der Lebenssinn im Streben nach Glück. Wie unterscheiden sich Sinn und Glück?
Beim Streben nach Glück geht es mir darum, mich gut zu fühlen. Wer nach Sinn fragt, hat eine andere Perspektive: Es geht darum zu verstehen: das Warum und das Wozu zu kennen. Einen Grund zu haben für das, was ich tue. Wenn ich also weiß, dass es wichtig ist, für etwas einzutreten, oder eine bestimmte Arbeit zu tun, dann tue ich es, weil ich es richtig finde, und nicht, weil es sich gut anfühlt. Das Interessante ist allerdings, dass sich Glücksgefühle quasi als Nebenprodukt einstellen, wenn wir gar nicht nach ihnen streben, sondern das tun, was wir sinnvoll finden. Wir wissen sogar aus der Forschung, dass das Streben nach Glück als Risikofaktor bezeichnet werden kann – zumindest bei Menschen, denen es prinzipiell eher gut geht. Wenn sie es als ihr Lebensziel ansehen, glücklich zu sein, werden sie häufiger depressiv oder anderweitig emotional instabil.

Das ganze Interview finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2023

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