Unser Immunsystem schützt uns vor Viren und Bakterien, heilt Wunden und kann uns vor Krebs und Autoimmunkrankheiten bewahren. Was meist übersehen wird: Es umfasst weit mehr als die biologische Ebene – auch psychische und soziale Abwehrkräfte spielen eine entscheidende Rolle. Was uns wirklich stärkt, sind nicht nur Vitamine und frische Luft. Ganz oben auf der Liste stehen: mehr Zeit für Muße, eine erfüllende Tätigkeit und ein gutes Miteinander.
Unser Immunsystem ist ein wahres Wunderwerk. Mit Hilfe von spezialisierten Körperzellen, Botenstoffen und fein ausgeklügelten Mechanismen zur Entzündungsförderung (um Infektionen zu bekämpfen) und Entzündungslinderung (wenn die Infektion abgeklungen ist) verteidigt es uns gegen Mikroben unterschiedlichster Art. Über Jahrmillionen gereift, kann es Viren, Bakterien, Parasiten und Pilze beseitigen. Außerdem hilft es uns, Wunden zu heilen und den Körper vor schädlichen Entwicklungen zu schützen, die uns längerfristig krank machen, also beispielsweise zu Krebs oder Autoimmunkrankheiten führen können.
Wir sind mehr als nur biologische Wesen
Und weil wir als Menschen nicht nur biologische, sondern ebenso seelische und soziale Wesen sind, reicht auch unser Immunsystem über den materiellen Bereich hinaus. Der noch relativ junge Forschungszweig der Psychoneuroimmunologie zeigt, dass auch psychische und soziale Faktoren, ja sogar gesamtgesellschaftliche und kulturelle Dynamiken Einfluss auf unser Immunsystem nehmen. Und zwar nicht nur in Form von Belastungen, sondern besonders auch als „Abwehrkräfte, die man unbedingt zum Immunsystem zählen muss“, wie der Mediziner, Psychologe und Psychotherapeut Christian Schubert von der Medizinischen Universität Innsbruck feststellt. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn wir körperlich oder mit Worten bedroht oder verletzt werden. Dann setzen wir Immunstoffe frei (biologische Reaktion), verspüren Angst oder Wut (psychische Reaktion) und versuchen von nun an, solch unangenehme Einflüsse zu vermeiden oder zu bekämpfen (soziale Reaktion).
Abwehrkräfte, die uns schützen und stärken
Beim Immunsystem geht es also nicht nur um den Kampf zwischen verschiedenen Zellen und Mikroben, es geht dabei auch um mehrere andere, miteinander verflochtene Ebenen. Das macht es so unglaublich komplex und zugleich so faszinierend. „Unser Immunsystem ist so viel mehr, als wir gemeinhin glauben“ , weiß Christian Schubert. Den Wissenschaftsblogger Philipp Dettmer bringt das richtiggehend ins Schwärmen: „Unser Immunsystem gleicht einem Fenster ins Universum, einem Fenster in die Komplexität, die uns umgibt, und deren Teil wir sind.“ Nachvollziehbar wird ein solch umfassendes Verständnis unseres Immunsystems, wenn man, wie der Psychoneuroimmunologe Schubert, davon ausgeht, dass neben der vielfach bekannten biologischen auch behaviorale, psychische und soziale Abwehrkräfte eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit spielen.
Das behaviorale Immunsystem
Bestimmt kennst du das: Ein Infekt bahnt sich an, du fühlst dich schlapp, lustlos und müde, möchtest niemanden mehr sehen und würdest dich am liebsten ins Bett legen. Dahinter steckt der behaviorale, also verhaltensmäßige Teil deines Immunsystems. Damit es die nötige Energie zur Verfügung hat, um die Viren zu bekämpfen, schickt dein Immunsystem Botenstoffe ans Gehirn, die deine Psyche beeinflussen und dir den Antrieb zu Arbeit, Sport und Geselligkeit nehmen. Es lädt dich ein zum sogenannten Sickness Behavior (Krankheitsverhalten) und sorgt zugleich dafür, dass du möglichst wenige Menschen ansteckst.
In unserem Alltag ist es allerdings meist gar nicht so leicht, diesen Impulsen auch wirklich nachzugeben und kürzer zu treten. Der gesellschaftliche Druck fördert eher die Angst vor den beruflichen Konsequenzen, wenn wir plötzlich krank werden und ausfallen. Angst aber, stellt Schubert fest, „deaktiviert wesentliche Player des physiologischen Immunsystems.“ Deshalb greifen wir zu den üblichen Antiphlogistika (Aspirin, Paracetamol, Ibuprofen). Der Haken: Sie unterdrücken zwar die Symptome, machen uns aber nicht gesund. Unterdrückte Infektionen bleiben nachweislich länger im Körper und können zu Schäden am Herzen oder zu Gefäßverkalkungen führen.
Dabei ist es nicht nur klüger, sondern sogar effizienter, auf die Signale unseres Immunsystems zu hören. Denn dann reichen oft schon ein paar Stunden echter Ruhe, und wir müssen gar nicht erst eine ganze Woche „ausgeschaltet“ werden. Noch dazu lassen wir uns damit nicht mehr von äußeren Anforderungen treiben, sondern entscheiden selbst und leben mit unserem Organismus statt gegen ihn. So kann unser Immunsystem mit der Zeit zu einer Art sechstem Sinn werden, der uns rechtzeitig vor heraufziehenden Krankheitsgefahren warnt und dadurch langfristig für eine stabilere Gesundheit sorgt.
Und keine Sorge, unser Immunsystem sorgt auch dafür, dass wir uns nicht länger als nötig „einigeln“. Vielleicht hast du auch schon die Erfahrung gemacht, dass mit dem Ende eines Infekts oft auch eine neue Frische, gute Laune und die Lust, wieder unter Menschen zu sein, einhergehen. Wissenschaftliche Studien bestätigen das: „Antiinflammatorische [entzündungshemmende] Zytokine [Botenstoffe] wirken beziehungsstimulierend … und das Immunsystem greift aktiv in unsere psychischen und sozialen Strukturen ein, um diesen Austausch in seinem Sinne mitzuregulieren“, so Christian Schubert.
Das psychische Immunsystem
Wenn du dich fragst, was dich im Leben schwächt, was dich belastet, krank macht, dann fallen dir wahrscheinlich nicht als Erstes Bakterien und Viren ein. Eher schon Stress, Streit, Beziehungskrisen, eine unsichere Zukunft oder schlechte Nachrichten. Für Schubert ist klar: „Wir infizieren uns auch, wenn wir eine krankmachende Information unbedacht aufnehmen.“ Und genauso gilt umgekehrt: Was dich wirklich stärkt, sind nicht nur Vitamine und frische Luft. Ganz oben auf der Liste stehen dann: mehr Zeit für Muße, eine erfüllende Tätigkeit, ein gutes Miteinander, Sinn, Genuss und Kreativität. Dieses intuitive Wissen wird durch neue Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie bestätigt. Sie zeigen, dass psychische Belastungen die Immunabwehr schwächen, psychisches Wohlbefinden sie hingegen stärkt. Unser physiologisches Immunsystem macht keinen Unterschied zwischen biologischen, psychischen und sozialen Stressoren.
Christian Schubert, Immunsystem neu gedacht, Arkana Verlag, 24 Euro
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