Achtsamkeit als Lebenskompass

Aus der Erfahrung mit ihrer Krankheit weiß Karima Stockmann: Es liegt an uns, ob wir Glücksmomente wirklich erfassen und ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken oder ob sie an uns vorüberziehen, ehe wir wirklich darin angekommen sind.

Oel ngati kameie“, übersetzt „Ich sehe dich“, heißt es in einem der erfolgreichsten Filme aller Zeiten – in Avatar. Einen Menschen wahrhaftig zu sehen, ist eines der größten Geschenke, das wir ihm machen können.

Doch in einer Zeit voller Smartphones, Ablenkungen und Aufgaben ist dies heute keine Selbstverständlichkeit mehr: seine Mitmenschen zu „sehen“, sie im Alltagstrubel in ihrem Sein wirklich wahrzunehmen, ihre Gefühle nachzuempfinden, einfach nur zuzuhören, ohne schon eine schnelle Antwort parat zu haben. Viele Menschen sind gefangen in einem Strom aus Gedanken und Informationen aus den Medien. Unsere Grübeleien im Inneren sind laut und wollen gehört werden. Im Außen schreien Werbung und schlechte Nachrichten nach Aufmerksamkeit. Unsere Wahrnehmung ist zu einem der wertvollsten Güter geworden, denn wir dürfen entscheiden, wem wir unsere kostbare Zeit widmen. Denn Zeit ist ein Gut, das man nicht kaufen kann.

Ankommen im Moment

Statt uns unbewusst in unseren Sorgen zu vergraben oder uns von der Medienflut fremdbestimmt hin und her werfen zu lassen, dürfen wir uns unserer Auswahlmöglichkeiten wieder bewusst werden. Denn es liegt an uns, ob wir eine Stunde, einen Tag, einen Urlaub, einen potenziellen, flüchtigen Glücksmoment wirklich erfassen, ob wir ihm unsere Aufmerksamkeit schenken oder ob er an uns vorüberzieht, ehe wir wirklich darin angekommen sind. Doch gerade dieses Ankommen im Moment – bei uns und unseren Mitmenschen – macht den Unterschied, ob wir uns nachhaltig zufrieden und erfüllt fühlen.

Die Farben des Lebens entdecken

Mir persönlich wurde diese Wahrheit sehr bewusst, als mich eine Krankheitsdiagnose im Alter von siebzehn Jahren schon recht früh mit der Endlichkeit meines Lebens konfrontierte. Von einem Tag auf den anderen hieß es: Rund um die Uhr Medikamenteneinfluss, denn ohne geht es ab heute nicht mehr, eine um zwanzig Jahre verkürzte Lebenserwartung und höchstes Risiko für mögliche Folgeerkrankungen. Dialyse, Erblindung, Herzinfarkt, Schlaganfall, Koma – begründete Ängste, die mit siebzehn Jahren plötzlich zum täglichen Begleiter wurden und dem Alltag seine Leichtigkeit nahmen.

Doch nur solange bis ich erkannte, dass ich eben nicht dem Hier und Jetzt meine Aufmerksamkeit widmete, sondern einem Risiko, einem möglichen Ende in der Zukunft. Und so traf ich die Entscheidung, mich wieder der kostbaren Gegenwart mit all ihren Geschenken zuzuwenden. Ich wollte mein Leben nicht verpassen aus lauter Angst vor dem, was vielleicht ohnehin nicht eintreffen würde, aus Furcht vor all dem, was da überwiegend in meinem Kopf und nicht in der realen Welt vonstattenging. Ich drehte den Spieß um und machte meine Krankheit nicht weiter zum Schreckgespenst, sondern zu meinem ganz persönlichen Lebensberater, zu meinem Achtsamkeitstrainer des Glücks. Ich wurde zufriedener und gesünder als ich es ohne Diagnose je gewesen wäre. Denn statt Angst zu haben vor der eventuellen Erblindung begann ich ganz genau hinzusehen, zu beobachten und mich von den Farben des Lebens begeistern zu lassen. Was können Sie genau in diesem Moment demütig bestaunen?

  • Karima Stockmann ist Rednerin, Autorin, Achtsamkeitscoach und Lebensfreude-Stifterin. Mit ihrem Institut für betriebliche Gesundheitsförderung und ihrem Blog lebensfreude-heute.de motiviert sie Jung und Alt zu einem achtsamen Umgang mit Körper, Geist und Seele. Am 20. Mai 2022 tritt Sie beim bewusster-leben-Tag in Konstanz auf. Tickets unter: www.bewusster-leben-live.de

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 1/2021

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