Ichigo-ichie

Jeder Moment ist kostbar. Wie uns eine japanische Lebenskunst dabei hilft, die Einzigartigkeit jedes Augenblicks schätzen zu lernen.

Ein Vogelkonzert im Frühling. Der Wald ein einziges Singen, Zwitschern, Rufen, Krächzen und Klopfen. Die Natur feiert ihr Erwachen, und meine Seele schwingt mit. Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, ist es zu Ende. Stille in den Bäumen, ein paar Piepser noch und das war´s schon. Schade, denke ich ernüchtert, warum sind die großartigen, die berührenden und erhabenen Momente immer so schnell vorbei. Könnte man sie doch festhalten, schwingen lassen und weiterfeiern, wenn es sich gerade gut anfühlt. Es ist diese alte Sehnsucht des Menschen, schöne Zeiten anzuhalten. Auch Goethe lässt seinen Faust zum Augenblicke sagen: „Verweile doch, du bist so schön …“

Die Kunst, besondere Momente zu zelebrieren

Was ist ein Moment? Nur ein Zeitraum von kurzer Dauer? Zum Glück nicht nur, denn wie es scheint, kann man ihn sogar ausdehnen und, wenn er schön ist, besser auskosten. Tatsächlich haben die Japaner eine Kunst daraus gemacht, besondere Momente zu zelebrieren. In ihrer Kultur ist es Tradition, schöne Augenblicke und wertvolle Begegnungen mit höchster Bewusstheit zu erleben. Ichigo-ichie heißt die komplexe Philosophie. Sie zeigt auf, wie man die Intensität und den Nachklang des guten Moments steigern kann. Ursprünglich aus der zweitausend Jahre alten japanischen Teezeremonie stammend, ist sie fester Bestandteil des Zen-Buddhismus.

Die Einzigartigkeit jeder Begnung

Im japanischen Sprachgebrauch werden die fünf Silben häufig benutzt, um die Einzigartigkeit eines jeden Augenblicks zu würdigen. Wörtlich übersetzt bedeutet Ichigo-ichie „eine Zeit, ein Treffen“ – es geht also um eine Begegnung, die nur einmal im Leben stattfindet. Ichigo-ichie soll uns daran erinnern, dass das, was wir genau jetzt in diesem Moment erleben, sich nicht wiederholen lässt. Wer den Gedanken verinnerlicht, wird sich automatisch um ein achtsameres Verhalten bemühen, wählt seine Worte höflich und bedacht, vor allem gegenüber Menschen, die er schätzt und liebt. Aber auch bei anderen besonderen Anlässen nutzen die Japaner die Formel – sie macht die Einzigartigkeit und das Unwiederholbare jeder Begegnung bewusst.

Jedes Erlebnis ist ein kostbarer Schatz

Zwar haben auch wir im Westen verstanden, dass es unsere Lebensqualität entscheidend verbessern kann, wenn wir mehr im Jetzt leben. Wir lernen durch Meditation, den Kreislauf der abschweifenden Gedanken zu unterbrechen und das Leben insgesamt bewusster wahrzunehmen. Die Lehre des Ichigo-ichie jedoch greift tiefer. Sie erinnert uns daran, dass jeder Morgen auf dieser Welt, jedes Zusammentreffen mit anderen Menschen, jede Sekunde, die wir mit unseren Lieben verbringen, unendlich wertvoll ist und unsere volle Aufmerksamkeit verdient. „Jede Begegnung, jedes Erlebnis ist ein kostbarer Schatz, etwas, das sich nie wieder in gleicher Weise wiederholen wird. Lassen wir dieses eine Erlebnis verstreichen, ohne es bewusst zu nutzen, ist die Gelegenheit dafür für immer verloren,“ schreiben die spanischen Autoren Francesc Miralles und Héctor García in ihrem Buch „Ichigo-ichie“.
Oft bedarf es nur kleiner Korrekturen in der Wahrnehmung, um unser Lebensgefühl zum Guten zu verändern. Ichigo-ichie ist ein Appell, die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit gegenüber dem Partner, Freunden, Familie, Arbeitskollegen und der Welt wiederzuerlangen.
Gerti Samel

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 2/2025

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