Kinder brauchen Flügel, keine Helikopter

Die Psychologin Emily Edlynn zeigt, wie Eltern stressfrei die Selbst­ständigkeit ihrer Kinder fördern können.

Montagmorgen, 6.30 Uhr: Meine Große begrüßt mich zum Frühstück mit den Worten „Ich will kein Müsli!“ Auch die rote Hose will sie nicht anziehen, was sie mir lauthals mitteilt. Beim Haarekämmen Geschrei: „Es ziept!“. In Gedanken gehe ich ihre Schultasche durch: „Hast du dein Vesper eingepackt? Vergiss deine Sportsachen nicht!“ Auf dem Weg zur Schule verkündet sie mir, sie brauche noch zehn Euro für die Klassenkasse. Also noch schnell einen Umweg zur Bank gemacht. 8.30 Uhr kommen wir an der Schule an – ich schweißgebadet, aber immerhin noch rechtzeitig.

Bin ich eine Helikopter-Mama?

Im Büro brauche ich dann erstmal einen Kaffee und atme bewusst durch. Mittlerweile ist Arbeit schon die reinste Entspannung für mich. Mittags Kind abholen, Hausaufgaben kontrollieren, Elterntaxi spielen. Später auf dem Spielplatz renne ich der Kleinen hinterher. Am Kletterturm angekommen, bin ich völlig aus der Puste und rufe nur noch: „Pass auf, dass du nicht runterfällst!“ Puh, wann ist dieser Tag endlich vorbei? Da lacht Inge neben mir plötzlich auf: „Mach dich doch mal locker, du Helikopter-Mama! Bam! Das hat gesessen.

Inge, meine Freundin und ebenfalls Mutter zweier Kinder, meinte es gar nicht böse, aber mir ließ dieser Begriff keine Ruhe. Nachts im Bett denke ich über ihre Worte nach. Ich dachte eigentlich, ich würde meine Kinder zur Selbständigkeit erziehen und nicht helikoptern. Bereits im Kita-Alter durfte meine Tochter mit Schere und Messer hantieren, was mir stets vorwurfsvolle Blicke meiner Schwiegermutter einbrachte. Andererseits merke ich, dass mein Leben vom Stundenplan meiner Töchter bestimmt wird und ich den ganzen Tag damit beschäftigt bin, Dinge für sie zu tun (anstatt auch mal für mich).

Bin ich überfürsorglich?

Da ich sowieso nicht schlafen kann, recherchiere ich „Helikopter-Eltern“. Definiert werden diese als überfürsorgliche und überängstliche Mütter und Väter, die aus diesem Grunde ständig über ihren Kindern kreisen. Klar sorge ich mich um meine Kinder. Aber bin ich deshalb gleich überfürsorglich? Dann entdecke ich einen Test: „Wie kontrollgesteuert erziehen Sie“? Die Auswertung beruhigt mich. Mein Kontrollwahn liegt wohl eher im niederen Bereich. Bei der Autonomie fördernden Erziehung liege ich in der Mitte. Autonomie fördernd? Das weckt mein Interesse. Was ist damit gemeint?

Die Kinderpsychologin Emily Edlynn beschreibt in ihrem Buch „Kinder brauchen Flügel“ ein neues Autonomie förderndes Erziehungskonzept. Dabei helfen wir unseren Kindern Selbstrespekt und Selbstwertgefühl zu entwickeln sowie Entscheidungen bewusst treffen zu können. Autonomie fördernde Erziehung funktioniert, da sie drei grundlegende menschliche Bedürfnisse befriedigt: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Bereits Kleinkinder fordern „selber machen“ und sind enorm stolz, wenn sie ihre Schuhe selbst binden können. Ein Kompetenzgewinn, der die intrinsische Motivation befeuert. Anders als bei der Kontrolle, bei der die Motivation von außen gesteuert wird.

Autonomie fördernde Erziehung im Alltag

Emily Edlynn verrät, dass es „bei der Autonomieförderung eigentlich um uns Eltern geht“. Denn wenn wir unseren Kindern mehr Verantwortung zusprechen, dann entlastet das auch uns. Dann sind es nicht mehr nur wir, die kochen, die Schultasche packen, das Vesper richten etc. „Die Selbständigkeit deiner Kinder, bedeutet Freiheit für dich“, verspricht denn auch die Elternbloggerin.
Da ich mich nach acht Jahren Mutterschaft und zwei Kindern nach mehr Leichtigkeit und Freiheit sehne, lese ich aber weiter. Das Ergebnis klingt spitze. Jetzt bleibt die Frage: Wie komme ich dahin?
Emily Edlynn bietet Werkzeuge an, die wir als Eltern anwenden können, um die Autonomie unserer Kinder zu fördern und damit mehr Wohlbefinden für die ganze Familie zu erlangen. Eine Gelinggarantie gibt es leider nicht. Schließlich passt nicht jedes Handwerkszeug zu jeder Situation und jedem Kind bzw. Elternteil. Aber einen Versuch wert ist es allemal:

Zeige Empathie

Empathie ist die „wichtigste Zutat für das Rezept der Autonomie fördernden Erziehung“, schreibt die dreifache Mutter Edlynn aus eigener Erfahrung. Indem wir uns in unsere Kinder hineinversetzen, geben wir ihnen das Gefühl, ihre Wünsche wie selbstverständlich äußern zu können und auch verstanden zu werden. Das große Drama inklusive Tränen und Geschrei wegen der roten Hose löst sich leichter, als ich aufhöre auf das Anziehen der selbigen zu bestehen und bei meiner Tochter nachfrage, was sie denn möchte. Der Rock, so muss ich ihr leider sagen, ist viel zu kalt bei dem Wetter. Dann möchte sie eben den Elsa-Pulli mit den Rüschen. Na, wenn das alles ist – kein Problem.

Liebe und akzeptiere dein Kind bedingungslos

Das ist selbstverständlich, denke ich. Doch dann erwische ich mich dabei, wie ich zu meiner Tochter sage: „Du bist gerade echt frech.“ Dabei können wir Kindern unsere bedingungslose Liebe insbesondere dann zeigen, „indem wir ausdrücklich zwischen Verhalten und Person trennen“, so die Erziehungsexpertin. Ich übe mich also in Sätzen wie: „Du bist ein toller Mensch, aber Beleidigungen gegenüber deiner Schwester sind nicht okay“.
Carola Reichenbach

Zum Weiterlesen:
Emily Edlynn, Kinder brauchen Flügel, Mankau Verlag
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2024

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