Sinnsuche in Wanderschuhen

Wer regelmäßig in der Natur unterwegs ist, spürt innere Ruhe, fühlt sich erfrischt, das Immunsystem wird gestärkt und das Stresslevel reduziert. Alexa Willems nimmt uns mit auf ihre persönliche Reise in die Natur und beschreibt, was sie dabei Neues über sich erfahren hat.

Wie war ich nur hierher gekommen? Wie war es passiert, dass ich hier draußen vor lauter Tränen kaum noch den vor mir liegenden Waldboden sah? Ich, die schon lange nicht mehr im Wald unterwegs gewesen war. Die stundenlang im vollklimatisierten Büro einer Bank saß, immer den nächsten Karriereschritt vor Augen. Die, die selbst beim Nachhauseweg kaum Kontakt zur frischen Luft suchte, da das teure Auto stets in der angrenzenden Tiefgarage parkte. Ich hatte nicht nur den Kontakt zur Natur, sondern vor allem zu mir selbst vollkommen verloren. Mein Leben glich zu dieser Zeit einem „höher – schneller – weiter-Event“ mit vielen Reisen, schicker Kleidung und anderen Statussymbolen. Werte, die mir einst wichtig waren, vernachlässigte ich völlig. Ich wendete mich von den wichtigsten Menschen in meinem Leben ab, begrenzte die Zeit zu meiner Familie auf ein Minimum und verließ mein heimatliches Umfeld. Und noch etwas fand in meinem neuen Leben keinen Platz mehr: Ich hatte den Kontakt zu Gott und meiner eigenen Spiritualität verloren und damit das Gefühl, mich voller Vertrauen gut aufgehoben zu wissen.

Mein Glück im Rucksack

Auf der Überholspur des Lebens zeigte mir mein Körper und meine Seele dann die rote Karte. Mit 32 erkrankte ich an einer Essstörung. Was mit dem Wunsch begann, mein Gewicht zu optimieren, endete in einem tragischen Teufelskreis aus Hunger, Verzicht und Verzweiflung. Nach dem totalen Zusammenbruch spürte ich dann mitten in der Natur – auf dem Waldboden sitzend – nach langer Zeit zum ersten Mal wieder einen Funken Hoffnung. Hoffnung, dass das Leben auf mich wartet. Dieser Moment hat mein Leben nachhaltig verändert. So sehr, dass ich heute staunend zurückschaue.

Mitten in der Natur

Eine erste wichtige Turn-around-Erfahrung machte ich damals auf einer kleinen Hütte in den österreichischen Alpen – ebenfalls mitten in der Natur. Das Steinhaus auf 1600 Metern Höhe befindet sich fernab von den Touristenhochburgen und es ist nicht mit dem Auto erreichbar. Nur ein schmaler, steiler Fußweg führt hinauf. Anni kümmert sich um die Hütte und nimmt die Gäste in Empfang. Ihr sonnengegerbtes Gesicht erzählt viel von den Herausforderungen und Freuden des Berglebens und trotz ihres Alters wirkt sie vital und fit. Als sie mich damals spontan zu einer ihrer Lieblingswanderungen einlädt, sage ich freudig zu und stopfe schnell ein paar Sachen in meinen Rucksack. Anni wartet auf der Holzterrasse auf mich und trinkt Tee, den sie aus würzigen Bergkräutern aufgegossen hat. Als ich mich zu ihr setze, deutet sie auf meinen Rucksack: „Kumm, auspapierln.“ Ich schaue sie überrascht und fragend an. Das Wichtigste für das Gelingen einer Wanderung, erklärt sie, sei es zu wissen, was man mitschleppt. Ich zögere – aus gutem Grund –, denn meinen Rucksack, der mein ständiger Begleiter ist, habe ich lange nicht mehr geleert.

Pack ma‘s!

Dann packe ich ihn vor Annis Augen aus. Sie gibt keine Ruhe bis nicht jede Tasche und jedes Fach leer ist. Ich staune, als sich am Ende alle möglichen Sachen über die gesamte Tischplatte verteilen. Über längst vermisste Mützen bis hin zu sage und schreibe vier Tuben Hand- und Sonnencreme ist so ziemlich alles dabei. Wie und wann ist das alles in meinen Rucksack hineingekommen? Vieles davon hatte ich tatsächlich vergessen, einiges schon vermisst und anderes verzweifelt gesucht. „Was davon brauchst du heute wirklich?“, fragt mich Anni und schaut mich dabei verschmitzt an. Ich muss nicht lange nachdenken und packe nur noch einen Bruchteil der vor mir liegenden Sachen in den Rucksack. „Kleinvieh macht auch Mist“, meint Anni und ruft mir ein fröhliches „Pack ma’s!“ zu.
Kennst du dieses Gefühl, überflüssigen Ballast mit dir herumzuschleppen, der dein Leben schwer macht? So wie wir Mützen, Cremetuben und ausgetrocknete Filzstifte unnötigerweise mit uns herumtragen, beschweren Blockaden und Muster, Ängste und Probleme und all die kleinen und großen Sorgen unseren Lebensrucksack. Eben alles, was uns hindert, ein Leben zu führen, in dem wir uns wirklich zu Hause fühlen. Es ist deshalb hilfreich, genauer auf unsere „Rucksack-Themen“ zu schauen, denn auch ich hatte meine Ängste, Verletzungen und Schamgefühle gut und lange verstaut. Manches hatte ich sogar in ein Geheimfach verbannt, in der Hoffnung, dort würde es sich wie von Zauberhand auflösen. Doch aus der Tiefe haben all diese Päckchen mein Leben belastet, sich auf die eine oder andere Weise immer wieder „zu Wort gemeldet“. Als ich mich am Ende meiner Kräfte sitzend auf dem Waldboden wiederfand, konnte ich nicht mehr wegsehen und weghören.

Neue Wege gehen

Rückblickend war diese Erkenntnis der erste Schritt in meine neue Zukunft. Ich verließ die lukrativen, gut ausgebauten Wege, und nahm stattdessen den „Abzweig“. Ich hatte den Sinn in meinem Leben zutiefst vermisst. So ließ ich mich in Wien sechs Semester lang in sinnzentrierter Psychologie ausbilden und kombinierte dies mit Fortbildungen im Bereich Naturcoaching und Naturtherapie. Gleichzeitig wurde ich ganz gesund und fand wieder Zugang zu meiner Spiritualität. Es fühlte sich so an, als hätte sich dieser Weg langsam zu mir gebahnt. Seit ich wandere hat sich alles verändert.
Vieles geht in Wanderschuhen einfacher. Warum? Wenn wir beispielsweise in der Gruppe wandern, dann geht jeder selbst, nicht einer geht voraus. Zusammen erwarten wir, was da kommen mag. Die Mitwanderer gehen selbst, erkennen selbst und deuten selbst. Diese Handlungsfähigkeit trägt viel Gesundes in sich. Und das ist gerade im psychohygienischen Sinne förderlich. Etwas selbst erkennen, handlungsfähig bleiben und das Leben wieder unter dem Aspekt des Gelingens zu erleben, mobilisiert die seelische und körperliche Kraft. Weg von Krankheit hin zu dem Weg, den ich selbst gestalten kann.

Das Vitamin N

Bereits Hippokrates, der bedeutendste Arzt der Antike, hat auf die umfassende Wirkung der Natur hingewiesen. Von ihm stammt der Satz: „Die Natur ist des Menschen beste Medizin.“ Auf Körper, Geist und Seele haben Naturaufenthalte in den Bergen oder am Wasser eine heilende und ausgleichende Wirkung. Mittlerweile belegen das auch diverse Studien: die Natur wirkt Angst reduzierend und trägt zu einer Verbesserung unserer Stimmung und Steigerung unseres Selbstwertgefühls bei, sie schult die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung und steigert in uns ein Gefühl des Wohlbefindens. In der Natur fühlen wir uns ruhig und erfrischt. Viele botanische und mineralische Substanzen wirken wie eine natürliche Medizin, die unser Immunsystem stärkt. Und das Schönste: Das Vitamin N(atur) steht uns allen frei zur Verfügung, muss nicht erst bestellt und bezahlt werden, sondern kann sofort angewendet werden.
Alexa Willems

Zum Weiterlesen:
Alexa Willems, Der Wald weist Dir den Weg, bene!, 18 Euro

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2023

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