Glück ist doch eine so einfache Sache. Meint man. Doch nur selten bekommen wir es zu fassen. Die Philosophie beschäftigt sich seit jeher mit dieser Frage.
„Die Philosophie ist – und zwar auch bei gescheiten Leuten – nur ein leeres Wort, das keine Beziehung zur Wirklichkeit hat“, gab der französische Schriftsteller Michel de Montaigne (1533–1592) zu bedenken. Doch schon seit der Antike muss sich die Zunft abendländischer Philosophen den immer gleichen ketzerischen Fragen und provokanten Vorwürfen stellen: Was will, soll und kann Philosophie leisten, wie lässt sie sich rechtfertigen? Ist die Philosophie (wörtlich die „Liebe zur Weisheit“) angesichts der vielen Probleme des Lebens und der Menschen nicht eine völlig nutzlose, überflüssige Disziplin, die lediglich unzulängliche und sich widersprechende Antworten parat hat? Wird Philosophie darüber hinaus nicht zum Großteil von elitären Grüblern im universitären Elfenbeinturm um ihrer selbst willen praktiziert? Die Antwort lautet: Nein! Philosophieren scheint – wie Essen, Trinken und Lieben – ein vitales menschliches Grundbedürfnis zu sein, das sich letzten Endes weder institutionalisieren noch in den Dienst anderer Wissenschaften stellen lässt. Philosophieren heißt vor allem fragen, hinterfragen und abermals in Frage stellen: ein Abenteuer des Denkens, nichts weniger als der Versuch des Menschen, sein Leben als Ganzes zu verstehen.
Für den großen Immanuel Kant (1724 – 1804) waren es vor allem drei Fragen, die die Menschen zu jeder Zeit bewegt haben und die den eigentlichen Gegenstand und Wert der Philosophie ausmachen: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir glauben? Für einen anderen bedeutenden deutschen Philosophen, Karl Jaspers (1883 – 1969), bestehen Wesen und Wert der Philosophie im Suchen nach der Wahrheit und nicht in deren Besitz: Philosophie heißt somit auf dem Wege sein, wobei man sich immer vor Augen halten sollte: „(Die Philosophie) kann sich nicht rechtfertigen aus einem anderen. Sie kann sich nur an die Kräfte wenden, die in jedem Menschen in der Tat zum Philosophieren drängen. … Die Philosophie ist immer da.“ Kurzum: Philosophie ist weder klein, geschweige denn tot zu kriegen, auch wenn sie auf allen möglichen Wegen vergeblich versucht hat, den Universalschlüssel zur Lesbarkeit der Welt, sozusagen den Stein der Weisen zu finden. Und vergessen wir eines nicht: Jeder Mensch ist, ob er will oder nicht, ein Philosoph – nicht zuletzt in jenem Augenblick, da er zweifelt, da er Wert und Bedeutung der Philosophie in Frage stellt, ja sogar abstreitet und ins Lächerliche zieht. „Sich über die Philosophie lustig machen, das heißt in Wahrheit philosophieren“, notierte nicht von ungefähr Blaise Pascal (1623 – 1662).
In der Schule des Glücks – philosophische Lebenskunst
Alle Menschen streben nach Glück, versuchen allein und im Verbund mit anderen glücklich zu sein. Ausnahmslos. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 wird das Glücksstreben gar zu den „unveräußerlichen Rechten“ des Menschen gezählt. So verschieden die hehren Ideale und konkreten Vorstellungen davon und erst recht die angewandten Mittel zur Erreichung dieses Ziels im Laufe der Zeiten und Kulturen auch gewesen sein mögen – und noch immer sind. Darin stimmen Anthropologen mit Theologen und Philosophen überein. Aber gerade für Letztere standen die Fragen nach dem Glück, nach einem gelingenden Leben und damit nach einer weisen (Über-)Lebenskunst, einer Ars Vivendi, spätestens seit der Antike im Brennpunkt ihres denkerischen Ringens. Just jene Fragen, die heute vor allem Psychologen, Esoteriker, Seelsorger und Lifestyle-Experten beschäftigen: Was brauche ich im Leben wirklich, um glücklich zu werden, und wie wende ich es richtig an? Die westliche Philosophie wusste sich ebenso wie die spirituell orientierte östliche seit alters her im Dienste der Weisheit für die praktische Bewältigung des Alltags.
Glück als höchstes Lebensziel
Zu den ersten Denkern, die eine regelrechte Glücksphilosophie entwickelt haben, gehört Aristippos von Kyrene (435 – 355 v. Chr.) – ein Schüler des Sokrates und Begründer des Hedonismus, einer Philosophenschule, welche die Lust (griech. = Hedone), das sinnliche Vergnügen und den unbeschwerten Genuss als Motiv, aber auch als Ziel alles sittlichen Handelns ansieht. Der Weg zum Glück besteht nach Aristippos allein darin, die Lust zu maximieren, dem Schmerz hingegen auszuweichen, wobei die körperliche Lust als der eigentliche Sinn des Lebens gilt. Überhaupt stellt in der antiken Philosophie das Glück – die alten Griechen prägten dafür den Begriff der „Eudämonie“, der Glückseligkeit – das höchste Gut des Menschen dar. „Die Glückseligkeit ist das Schönste und Beste von allem und zugleich die höchste Lust“, heißt es bei Aristoteles. Das Glück ist auch das Ziel des Handelns in der Gemeinschaft, im Staat. Dabei unterscheidet Platon (427 – 347 v. Chr.) zwischen dem üblichen Begriff des Glücks – der sich auf zufällige glückliche Umstände, aber auch auf äußere Güter, Besitz und Genuss bezieht – und jenem Begriff des Glücks, der von innen kommt und in der philosophischen Betrachtung gewonnen wird. Gemeint ist die durch Kontemplation zu erreichende Erkenntnis der höchsten Idee des Wahren, Guten und Schönen, die zugleich die Grundlage für das Funktionieren eines gerechten Staates bildet, aber den Philosophen vorbehalten bleibt.
Eine weitere Voraussetzung für das Glücklichsein des Menschen sieht Platon im harmonischen Miteinander der drei Seelenteile Vernunft, Mut und Trieben. Für Aristoteles (384/3 – 322/1 v. Chr.) ist das Glück nur in der Gemeinschaft möglich, da der Mensch im Gegensatz zum Tier ein soziales Wesen ist, das sein Glück in einer vernünftig gestalteten politischen Ordnung und gemäß bestimmten Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Freigebigkeit und Sanftmut erreicht. Im Gegensatz zu Platon ist das Glück bei Aristoteles jedoch für jeden freien Bürger möglich. Besonderen Wert legt Aristoteles auf den Aspekt der Dauerhaftigkeit des Glücks: „Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, und so macht auch ein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden glücklich und selig.“
Ziemlich einig waren sich die verschiedenen Schulen der antiken Philosophie darin, dass die Ruhe der Seele und ein gelassener Umgang mit den Wirrnissen des Lebens die Bedingung des Glücks sei. Uneinigkeit herrschte jedoch über den Weg, auf dem die Seelenruhe zu erlangen ist. Epikur (342/41 – 271/70 v. Chr.) meint: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen“, und empfiehlt einen Weg des kleinen Glücks, so wenn er in einem Brief an einen Freund schreibt: „Schicke mir doch einmal ein Stück kythischen Käse, damit ich, wenn ich Lust dazu habe, einmal recht schwelgen kann.“ Während die Epikuräer – benannt nach dem griechischen Philosophen – sich die Freude und den Genuss an den einfachen erreichbaren Gütern sowie das Freisein von Schmerz zum Ziel gemacht hatten, war es das Ziel der Stoa, einer anderen großen Philosophenschule, sich von den eigenen Wünschen möglichst ganz zu lösen und den äußeren Gütern keinen Wert mehr beizumessen.
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Lass dich nicht von Äußerlichkeiten beherrschen!
Für die Stoiker ist die höchste Lust mit der wahren Erkenntnis der (sittlichen) Weltordnung verbunden. So schreibt der römische Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.): „Glückselig und naturgemäß leben ist ein und dasselbe … Wir leben naturgemäß, wenn wir die körperlichen Anlagen und Bedürfnisse unserer Natur sorgfältig, aber nicht ängstlich beachten als etwas, das uns nur auf Zeit gegeben und flüchtig ist; wenn wir nicht ihre Sklaven werden und nicht etwas unserem Wesen Fremdes uns in seine Gewalt gebracht hat …“ Seneca rät den Menschen auf ihrem Weg zum Glück, sich von Äußerlichkeiten weder verführen noch beherrschen zu lassen, sich stattdessen selbst zu vertrauen, auf alles gefasst und vor allem Gestalter ihres eigenen Lebens zu sein: „Das ist die wichtigste Aufgabe der Weisheit: dass mit den Worten die Taten übereinstimmen, dass man selber in jeder Situation sich gleich und derselbe ist.“
In der mittelalterlichen, christlich geprägten Philosophie wandte man sich zunehmend von der Vorstellung des irdischen Glücks ab. Nur im Glauben an Gott bzw. in der unmittelbaren Anschauung, im „Genuss Gottes“ (Augustinus) ist Glück möglich. Der Mensch kann die Glückseligkeit erst nach seinem Tode, durch die Teilhabe am ewigen Leben erreichen, wie es etwa die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament verheißt: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Die Neuzeit distanziert sich indes von den theologischen Glücksvorstellungen und versucht, das Glück wieder im diesseitigen Leben zu verankern. Glück wird immer mehr zu einer Angelegenheit des Einzelnen. So ist beispielsweise für den englischen Philosophen David Hume (1711 – 1776) Glück das, was Vergnügen bereitet, auch wenn er einschränkend mahnt: „Sei kein Sklave deiner Leidenschaften.“
Dem Glück nicht in Gestalt von Besitz nachjagen!
Nach Kant hat der Begriff des Glücks einen geringeren Status, da er zu unbestimmt ist, um Fragen der Ethik zu beantworten. Glück ist nicht das Ziel des Handelns, vielmehr lehrt Kant die unbedingte Pflichterfüllung. In die gleiche Richtung geht auch der pessimistische Denker Arthur Schopenhauer (1788 – 1860), wenn er in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit festhält: „Kein verkehrterer Weg zum Glück als das Leben in der großen Welt in Saus und Braus (high life).“ Denn seiner Grundüberzeugung nach sind wir Menschen nicht auf Erden, um dem Glück in Gestalt von Besitz und Ansehen nachzujagen, sondern um unsere eigene Persönlichkeit auszubilden und geistigen Reichtum zu erwerben.
Im Gegensatz zu Kant hat in der Moderne der klassische Utilitarismus, der bis heute als Staatsphilosophie der USA gelten kann, das Glück noch einmal zum Prinzip des moralischen Handelns gemacht. So hat der Engländer Jeremias Bentham (1748 – 1832) das Grundprinzip seiner Ethik wie folgt formuliert: Das höchste Gut ist „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“ der Menschen. Glück wird als die Maximierung des Genusses verstanden. Demnach ist eine Handlung gut, die das größte Glück der größten Zahl der Menschen zur Folge hat. Mit dieser Form des Utilitarismus ergibt sich jedoch das Problem, dass es immer besser ist, ein zufriedener Narr als ein unzufriedener Sokrates zu sein. Deswegen hat James Stuart Mill (1773 – 1836) eine Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren Genüssen eingeführt.
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Bei Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) ist der Begriff des Glücks vor allem mit dem der Machtsteigerung, bei Sigmund Freud (1856 – 1939) mit dem der (sexuellen) Lustempfindung verbunden. Für den französischen Philosophen Michel Foucault (1926 – 1984) ist ein glücklicher Mensch in erster Linie ein Lebenskünstler, jemand, der sein Leben nach Art eines Kunstwerks gestaltet: schön, stilvoll und komponiert. Die Französin Simone de Beauvoir (1908 – 1986) betont dabei das individuelle Moment: „Das Glück besteht darin, zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein.“ Dem Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk (geboren 1947) zufolge ist das Glück „immer nur als ein verlorenes zu denken“. Mit dem Glücksphilosophen Ludwig Marcuse (1894 – 1971) kann man folglich sagen, dass es beinahe so viele Ansichten über das Glück wie Philosophen gibt, und sich fragen: „Liegt es an den Philosophen, dass sie sich nie einigen konnten? Das Wort Glück hat in allen Sprachen etwas Vieldeutiges. Es ist eine Sonne, die eine Schar von Trabanten um sich herum hat: Behagen, Vergnügen, Lust, Zufriedenheit, Freude, Seligkeit, Heil.“ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich jedenfalls – und damit kommen wir ans Ende unseres Streifszugs durch die Glücksphilosophie – jenseits der Befriedigung materieller Wünsche in einer kapitalistisch globalisierten Massen- und Konsumgesellschaft eine neue Diskussion über die Frage nach dem „guten“, nach dem „geglückten“ Leben entzündet.
Glücks-Ratgeber sind der Renner im Buchhandel. Wie vielgestaltig Glück aber definiert werden kann und wie relativ es dementsprechend sein kann, das zeigen die großen Philosophen über die Jahrhunderte hinweg. Deshalb: Vorsicht vor all zu einfachen Glücksrezepten!
Richard Reschika
Illu: Andrea Gielnik