Sei du selbst

Authentisch sein heißt vor allem: Du musst dich nicht verstellen, um geliebt zu werden.

Der erste Mensch, der mich beeindruckt hat, war meine ältere Schwester Brigitte. Sie weiß es nicht. Bis heute nicht. Wir haben nie darüber gesprochen. Ich denke mal, es war ihr auch egal. Brigitte war immer ziemlich schweigsam und in sich gekehrt. So sahen sie jedenfalls die anderen. Ich nicht. Vielleicht hat sie meine Familie zum Schweigen gebracht. Ich war noch zu jung dafür, um das zu verstehen. Und ich brauchte es auch nicht zu verstehen. Mit mir sprach sie ja. Und ich empfand: Eigentlich ist sie ganz anders als die anderen sie sehen. Wir amüsierten uns mit selbst ausgedachten Spielen, sangen, sponnen gemeinsam Fantasien und schrieben sogar gemeinsam Gedichte.

Wir hörten zusammen Musik und sprachen darüber. Wir „komponierten“ eigene Lieder, machten Federballschläger zu Gitarren, dachten uns Bleistifte als Mikrophone und traten vor einem begeisterten, imaginären Publikum auf. Wir lebten in unserer eigenen Welt, auf einem eigenen Planeten, in einem Universum, das wir uns selbst geschaffen hatten und von dem niemand wusste außer uns beiden. Das war mein Kinderparadies. Die Heimat meiner Kinderseele. In ihrem Zimmer mit Ausblick im ersten Stock befand sie sich.

Sie war meine Heldin

Brigitte war der Mensch, der mich und meine Gefühle ernst nahm, sie zum Tanzen brachte. Ich weiß nicht, ob sie das damals wusste. Ich jedenfalls spürte es so. Sie war klug, hochsensibel, einfach so anders als die anderen. Sie war die Andere, die mich heraushob aus der gewöhnlichen Welt. Ihr Zimmer glich einer großen Bibliothek: zugestellt von Regalen mit hunderten von Büchern. Sie sprach mit mir über Hermann Hesse, Max Frisch, Eichendorff und all die anderen, die für sie von Bedeutung waren und die sie alle gelesen hatte. Ein Mensch, der, so schien mir, außer zu mir und ihren Büchern kaum andere Kontakte pflegte. Ich gehörte in ihre Welt.
So wurde die Welt der Bücher auch zu meiner Welt. Und die Unabhängigkeit im Geist, so wie ich sie bei meiner Schwester spürte, wurde zu meinem bestimmenden Lebensgefühl. Für mich war sie der erste authentische Mensch, dem ich begegnet bin. Sie war meine Heldin. Ein Mensch, der seine echten Gefühle, sein wahres Wesen nicht vor mir verbarg, der mich so annahm wie ich war, der sich mir liebevoll zuwendete.

Mit Charme und Charisma

Vielleicht kannst du dich auch an eine Person erinnern, die dir mit einer ähnlich bedingungslosen Offenheit begegnet ist und die dein Leben so nachhaltig und grundlegend verändert hat, dass du unter ihrem Einfluss, zu dem Menschen geworden bist, der du heute bist. Eine Person, von der du dich vollkommen angenommen und geliebt fühltest, deren Ausstrahlung, Ansichten und Gefühle du in dich aufgenommen hast, und die heute vielleicht die deinen sind. Eine Person, von der du den Eindruck hast, sie ist wirklich sie selbst. Eine Person mit Charme und Charisma, die ganz für eine Sache brennt und einen eigenen, autonomen Standpunkt der Welt gegenüber einnimmt. Jemand, an dessen Ansichten du dich vielleicht ausgerichtet hast, die dir einen ganz neuen Aspekt der Welt enthüllt und die dich auf deinem weiteren Lebensweg so sehr beeinflusst hat, dass sie zu einer Schlüsselfigur für deine geistige und seelische Entwicklung geworden ist. Auf der Suche nach dem, was wir als authentisch empfinden, scheint es mir deshalb naheliegend, wenn wir uns an das Gefühl erinnern, das ein solcher Mensch in uns hervorgerufen hat.

Was wir als authentisch erleben

Authentische Menschen haben eine große Ausstrahlung auf ihre Mitmenschen. Sie wirken in sich stimmig, stehen zu ihren Gefühlen und Werten, verfolgen oft schon seit ihrer Kindheit eine Idee, einen Traum von ihrem Leben und setzen diesen nach und nach, aber zielstrebig, auch unter großen Schwierigkeiten, um. Dafür bewundern wir sie: für ihre Geradlinigkeit, Ehrlichkeit und Konsequenz. Sie scheinen ein untrügliches Gefühl für ihre eigene Wahrhaftigkeit in sich zu haben, ein sicheres Lebensgefühl, dem sie folgen und das ihnen sagt, wofür sie auf der Welt sind, was sie antreibt und was sie von der Welt und mit ihrem Leben wollen.
Authentische Menschen leben aus der Kraft der Emotion. Sie stehen zu ihren Gefühlen und haben gelernt, mit ihnen positiv umzugehen. Sie lassen sich von ihnen in ihrem ganzen Denken leiten und sind die Hauptantriebsfeder ihres Handelns. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, verfolgen sie Schritt für Schritt ihre Ziele und werden gerade deshalb als echt und glaubwürdig empfunden, weil sie keine abgeklärten, distanzierten, sondern fühlende und mitfühlende Wesen sind.

Authentische Menschen verstecken sich nicht hinter einer Rolle

Sie spalten ihre Persönlichkeit nicht in eine berufliche und eine private Rolle auf. Sie wissen, dass es sich nicht lohnt, sich hinter einer Rolle zu verstecken. Sie sind so, dass wir sie als echt, original, unverfälscht und glaubwürdig empfinden. Einen Menschen, den wir als authentisch wahrnehmen, meinen wir zu kennen.

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2024

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