Neuanfang nach Trauma

Traumata sind stille Wunden der Seele, die meist im Verborgenen wirken. Sie beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln. Psychologin Aylin Thiel erklärt, wie wir Schritt für Schritt ­zurück zu einem erfüllten Leben finden können.

Wir funktionieren im Alltag, erfüllen Pflichten, kümmern uns fürsorglich um andere und erleben dabei dennoch eine tiefe innere Erschöpfung, ein Gefühl von Leere, Überforderung oder das vage Empfinden, irgendwie nicht richtig zu sein. Wir ahnen, dass in unserem Inneren etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Meist lassen sich diese Empfindungen nicht klar zuordnen. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, kein konkretes Ereignis, das wir als Ursache erkennen können. Und doch ist da etwas, das wirkt. Etwas, das unser eigenes Erleben und Verhalten prägt, ohne dass es bewusst wahrgenommen wird.

Die Wirkung von seelischen Verletzungen

Aus therapeutischer Sicht zeigt sich hier häufig die Wirkung von seelischen Verletzungen, die nicht als solche erkannt wurden, sogenannte Entwicklungstraumata. Es sind längst vergangene Erlebnisse, in denen wir emotional allein gelassen wurden, überfordert, beschämt oder dauerhaft angespannt waren, oft schon in der frühen Kindheit. Solche Erfahrungen hinterlassen Spuren, nicht nur in unserer Psyche, sondern tief im Körper, im Nervensystem und in den Gefühlen.

Unsichtbare Wunden

Weil solche Wunden keine sichtbaren Narben hinterlassen, bleiben sie im Alltag oft verborgen. Doch sie wirken weiter: in Beziehungen, in der Selbstwahrnehmung, in unseren Grenzen und Bedürfnissen. Trauma ist nicht immer laut und dramatisch. Oft ist es leise und genau deshalb so schwer greifbar. Die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences, Felitti et al., 1998), eine groß angelegte Längsschnittstudie mit über 17.000 Teilnehmenden, untersuchte den Zusammenhang zwischen belastenden Kindheitserfahrungen, wie emotionaler Vernachlässigung, Gewalt oder Sucht in der Familie, und der späteren körperlichen und psychischen Gesundheit. Das Ergebnis: Über 60 Prozent der Befragten hatten mindestens eine solche Erfahrung gemacht. Ein Entwicklungstrauma ist also nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es ist tief verwurzelt in vielen Biografien, und obwohl unerkannt, bleibt es wirksam.

Eine tiefgreifende Erschütterung unserer Psyche

Trauma ist nicht das, was passiert ist, sondern das, was in uns zurückbleibt, wenn wir allein damit waren. Es geht nicht primär um das Ereignis selbst, sondern um die Wirkung auf unser Inneres. Entscheidend ist, ob wir in dem Moment ausreichend Schutz, Halt und Regulation erfahren haben oder ob wir seelisch und körperlich überwältigt wurden.
Trauma ist also keine Definition eines äußeren Geschehens, sondern eine Reaktion: eine tiefgreifende Erschütterung, die das Nervensystem, die Psyche und oft auch das Körpergedächtnis dauerhaft beeinflusst. Dabei unterscheidet man verschiedene Formen:

Verschiede Formen von Traumata

Ein Schocktrauma entsteht durch plötzlich überwältigende Ereignisse, wie z. B. Unfälle, Naturkatastrophen oder Gewalt. Bindungs- und Entwicklungstrauma entstehen durch ein häufig wiederholtes Muster emotionaler Verletzungen während der kindlichen Entwicklung, z.B. durch emotionale Vernachlässigung, ständige Unsicherheit, Überforderung oder das Fehlen liebevoller Resonanz in prägenden Beziehungen.
Wenn Kinder keinen sicheren Ort für ihre Gefühle finden, spalten sie oft das ab, was zu viel für sie ist. Der Körper überlebt, zahlt dafür aber oft den Preis der inneren Spaltung. So werden Erinnerungen, Gefühle oder Bedürfnisse in tiefere Schichten verschoben. So bleibt das Nervensystem in ständiger Alarmbereitschaft, auch wenn der äußere Anlass längst vorbei ist.

Alltag mit schwerem Gepäck

Die Spuren eines Traumas zeigen sich oft dort, wo wir sie am wenigsten vermuten: im ganz normalen Alltag. In einem Körper, der nicht zur Ruhe kommt. In Nächten voller Gedanken oder Schlaflosigkeit. In einem Grundgefühl ständiger Anspannung oder innerer Leere. In scheinbar kleinen Situationen, die unverhältnismäßig starke Reaktionen auslösen.
Traumatische Prägungen äußern sich oft nicht dramatisch, sondern alltäglich: in chronischer Erschöpfung, in Schwierigkeiten, sich abzugrenzen, in dem Gefühl, ständig etwas leisten zu müssen, oder bloß nicht zur Last zu fallen. Manche Menschen entwickeln eine übermäßige Anpassung, verlieren sich selbst in Beziehungen oder erleben Nähe als beängstigend. Andere fühlen sich schnell angegriffen, geraten schon bei kleinster Kritik in innere Not, als wäre ihr Dasein ernsthaft bedroht.
Aylin Thiel

Zum Weiterlesen:
Aylin Thiel, Trauma ENDLICH überwinden, Allegria Verlag

Den ganzen Artikel findest du in unserer bewusster leben Ausgabe 5/2025

Diesen Artikel teilen

Weitere Beiträge

Denk an dich

Sie fühlen sich schlapp und überfordert? Sechs Tipps, die Ihnen helfen, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Diesen Artikel teilen

Schreiben Sie einen Kommentar