Tagebuch des Glücks

Nachbars Katze, Seifenblasen, der frisch gebackene Schlammkuchen, Vanilleeis mit Erdbeersoße oder Papas Stimme, die ihr etwas vorlas: Mariele Diehl erzählt von ihren Glücksmomenten und warum wir das Glück nicht lernen, sondern nur verlernen können.

Wenn ich alt bin, erzähle mir die Geschichte des Lebens. Male die Vergangenheit an meine Zimmerdecke, dem Nachthimmel gleich. Und zwischen all dem Schwarz und Blau und Grau werden die Glücksmomente sein, wie funkelnde Sterne. Und ich werde jeden einzelnen bestaunen, sie sanft berühren und schließlich werde ich sie mit mir nehmen, in die Ewigkeit.
So stelle ich mir das zumindest vor, an Sommerabenden, an denen ich im Garten liege und träume (was ich regelmäßig zu tun pflege). Doch auch wenn es nicht so ist, wenn sie am Ende unseres Lebens einfach verblassen, macht es die Glücksmomente nicht weniger bedeutsam. Im Gegenteil.

Kleine und große Glücksmomente

Über Glück wird gerne hochgestochen gesprochen. Nicht selten hört man von einer „Philosophie des Glücks“ oder von einer „langen Reise zum Glück“. Vor meinem inneren Auge hat das Glück deshalb ein sehr faltiges Gesicht mit vor Weisheit funkelnden Augen, stützt sich zudem (aus Gründen der Dramaturgie) auf einen krummen Stock und trägt ein langes, zerschlissenes Gewand.

Glücklich sein könne jeder, versprechen zahlreiche Bestseller. Der Weg dahin führe dabei über Achtsamkeitstrainings, Atemübungen, Nahrungsumstellungen, Bitcoin-Investitionen, oder über den berüchtigten Ausstieg aus der Gesellschaft. Glücklich machen uns Wald, Strand oder Berge, die Meinungen sind da verschieden. Aber gleich ist ihnen fast immer: Das Glück liegt in der Ferne. Und der Weg dahin ist anstrengend, erfordert Opfer, Mühen und vielleicht Jahrzehnte.

Das Glück ist ein Kind

Wieso also schreibe ich, das Glück sei ein Kind? Weil ich das Glück kannte, noch bevor meine Erinnerungen einsetzten. Es war da, noch vor dem ersten Gedanken, mal tief und warm, wenn mich Mamas Arme in der Dunkelheit aus dem Auto hoben und sanft ins Bettchen trugen. Mal war es ein perlendes Lachen, das endlos aus meinem Innersten hervorzusprudeln schien. Mal lag es in den ersten unsicheren Schritten auf taubenetztem Gras. Dann wieder war es Nachbars Katze, eine Seifenblase, der frisch gebackene Schlammkuchen, Vanilleeis mit Erdbeersoße oder Papas Stimme, wie sie mir aus dem „Steinzeit Ei“ vorlas und dabei jede Figur mit einer anderen Stimme vertonte. Und meine kleine Schwester neben mir, anstatt stillzusitzen und zuzuhören, Kissenburgen bauend. „Die Lotti hat Hummeln im Po“, sagte mein Vater dann immer.

Mein erster Eintrag

Aber da waren natürlich nicht nur Glücksmomente. Wo erste Schritte waren, folgten ihnen erste Beulen, die Seifenblasen hatten eine lästige Tendenz zu zerplatzen und Nachbars Katze kratzte. Doch wenn ich versuche, meinen Finger auf den Moment zu legen, an dem ich das erste Mal Glück verspürte, und zurückblättere in meinem Tagebuch des Glücks, hin zum ersten Eintrag, finde ich ihn nicht. Als wäre ich aus dem Glück gekommen und alles andere, der Schmerz, die Wut, die Angst kamen erst lange danach.

Wenn Mariele Diehl eines ist, dann ist sie eine Träumerin. Sie träumt durch ihre Harfe. Und durch Worte, entweder in der Form von Büchern und Texten aufgeschrieben, oder, an ihren tollkühnen Tagen auch mal gebrüllt, durch ein Mikrofon auf einer Demo. Denn sie träumt von Morgen. Von Klimagerechtigkeit, sozial-ökologischen Wandel und Frieden. Und wenn sie nicht träumt, dann versucht sie mit anzupacken. Wo es eben geht. In der Politik oder beim Klimaaktivismus. Dazu studiert sie in Marburg Psychologie.

Den ganzen Artikel von Mariele Diehl finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 5/2022


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