In unserer Konsumgesellschaft verwalten wir Liebesbeziehungen wie abgeklärte Brocker ihre Aktienportfolios. Die Kunst des Liebens steht dabei nicht besonders hoch im Kurs.
Schon Erich Fromm, „Großmeister der Kunst des Liebens“, erkannte, dass die jeweils vorherrschende Gesellschaftsform einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Fähigkeit zu lieben hat. „In einer Welt, in der Privatheit nur noch eine Illusion ist, wird die Liebe zur Schau gestellt und mit dem Ziel geteilt, einen Profit daraus zu schlagen, der dem Marktwert entspricht“, konstatiert 65 Jahre später der italienische Journalist und Schriftsteller Thomas Leoncini. Geboren Mitte der 1980er Jahre wirft er einen kritischen Blick auf das seltsame Paarungsverhalten seiner Generation.
Die Liebe ist nicht außerhalb von uns, sie ist in uns.
Eine flüssige Gesellschaft, wie Leoncini unsere heutige Zeit beschreibt, verlangt nach ständig neuen, aufregenden, vielversprechenden Ereignissen. Langfristige Projekte, dauerhafte Bindungen und Stabilität stehen der Jagd nach dem nächsten großen Kick nur im Wege. Wir halten uns für individuelle Einzelkämpfer, ohne uns des gesellschaftlichen Gruppenzwangs dazu bewusst zu sein. „In unserer globalisierten Welt ist die flüssige Liebe die Norm“, stellt der Autor fest. Ihr Kennzeichen: Sie ist „außerhalb von uns, sie ist nicht in uns.“
Unsere Kultur beraubt die entwurzelten Menschen der Liebe
Denn der ideale Partner, der uns aus dem ganzen Schlamassel retten soll, ist nur einen Mausklick entfernt. Und wenn wir glauben, ihn gefunden zu haben, tauschen wir ihn nach seiner zwangsläufigen Entzauberung gegen ein vermeintlich besser zu uns passendes Exemplar aus. Angebote sind auf diversen Dating-Portalen ja reichlich vorhanden. „Unsere Kultur beraubt heute die entwurzelten jungen Menschen der Liebe, lässt ihnen jedoch das Bedürfnis zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Sie verwandelt sie in potenzielle Objekte des Konsums und der Gesetze des Marktes.“ So Leoncini in seinem Buch „Stark wie das Leben, flüssig wie die Liebe“.
Wer sich schon einmal auf Single-Börsen und Partnervermittlungen im Netz herumgetrieben hat, kann Leoncinis Beobachtungen bestätigen. Heiratsmärkte hat es früher schon gegeben, Ehen wurden von den Eltern arrangiert. Heute würden wir dies zu Recht als Eingriff in unsere persönliche Freiheit verstehen. Uns selbst als möglichst begehrenswertes Objekt auf dem modernen Liebesmarkt zu verschachern, scheint unserer Autonomie dagegen keinen Abbruch zu tun. Die Liebe hat sich dem Prinzip unserer Konsumgewohnheiten angepasst. Ist das einst begehrte Produkt veraltet, funktioniert nicht mehr oder hat seinen Glanz verloren, dann landet es schnell auf den Müll. Dabei übersehen wir, dass das dahinterstehende Prinzip gar nicht funktionieren kann, und dass ungestilltes Verlangen ja gerade die Triebfeder einer Konsumgesellschaft ist.
Ständig auf der vergeblichen Suche nach Mr. und Mrs. Right
„So müssen wir unablässig nach diesem Menschen suchen, mit allen Mitteln, die uns die Gesellschaft als angeblich uneigennützig in unserem Dienst stehend anbietet, nur damit wir unweigerlich unsere x-te Enttäuschung und Ernüchterung erleben“, beschreibt Leoncini die Zwickmühle, in die uns die Suche nach dem oder der einzig Richtigen geführt hat. In Liebesromanen und -filmen, Dating-Apps und Kennenlern-Börsen erscheint die Liebe als unvergleichliches Gefühl, das beim Anblick von Mr. oder Mrs. Right wie der Blitz aus heiterem Himmel bei uns einschlägt. Solange wir diesem Narrativ Glauben schenken, verkommt die Liebe zur Lotterie mit Hauptgewinn, Trostpreisen und Nieten … Veronika Schantz
Zum Weiterlesen: Thomas Leoncini, Stark wie das Leben, flüssig wie die Liebe, Herder Verlag
Den ganzen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe bewusster leben 4/2022
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