Sehnsucht nach Winter

Echte Kälte, ganz viel Schnee und unbeschreib­liche Kontraste: Ihre Sehnsucht nach einem richtigen Winter hat Andrea C. Bayer in den hohen Norden Europas ­geführt – zu Freunden, Freuden und tiefen Gefühlen

Das letzte Tageslicht ist verschwunden. Es wird noch ein wenig dauern, bis es die Sonne überhaupt zum ersten Mal wieder über den Berg hinterm Haus schafft. Bis dahin ist Winter auf der Inselkette der Lofoten. Mit Kälte, Schnee und Eis. So, wie sich der Winter gehört. So, wie ich mich aus meiner Kindheit auf der Schwäbischen Alb erinnere. Weit entfernt von Norwegen und noch weit entfernt von meiner Liebe zu Skandinavien. Doch es gibt etwas, das an diesem Abend 3.000 Kilometer und dreißig Jahre mühelos überwindet und zwei so weit voneinander entfernte Orte verbindet: Es ist dieses irrsinnig tief in mir verankerte Glücksgefühl, das sich immer dann einstellt, wenn Jahreszeiten mit echten Kontrasten daherkommen. Wenn die Winter kalt sind und die Vorfreude auf den Frühling ehrlich ist. Wenn Kopf, Herz und Körper intensiv wahrnehmen und mich die Ehrfurcht vor Landschaft, Licht und Natur verstummen lässt.

Winterzeit ist Nordlichzeit

Es ist das erste Mal, dass ich meine Freundin Stephanie und ihren Liebsten Leif-Arne im Winter besuche. Weit oben im Norden Europas, dort, wo die Sonne im Sommer nicht untergeht und jeder einzelne Strahl von ihr im Winter ein Geschenk ist, da sitzen wir in dicken Winteranzügen am wärmenden Feuer. Die bauchigen Weingläser sind längst beschlagen. Der Himmel tiefschwarz. Zunächst. Bis zu diesem magischen Augenblick, in dem ein zartgrüner Schleier über uns hinweghuscht. Der nächste Schleier ist selbstbewusster. Er tanzt, wird kräftiger. Wir schweigen und staunen. Winterzeit ist Nordlichtzeit.

Winter ist Ruhe, Stille, Langsamzeit und ganz viel kindliche Freude

Hier oben in Norwegen, da ist Winter noch Ruhe, Stille, Langsamzeit. Der Alltag ist extremer. Die Kälte im Draußen trifft Wärme im Drinnen. Wieder so, wie ich es aus der Kindheit kenne. In meinem Erinnerungsstübchen tummeln sich Bilder meiner ersten Skiversuche am Hausberg und von über mannshohen Schneemännern mit dicken Mantelknöpfen. Um die Hutkrempe zu modellieren, stieg mein Papa auf eine Leiter. Stattlich und standfest war er schließlich, der Genosse aus Schnee. Mit jedem Neuschnee wuchs er weiter und überragte mich um ein Vielfaches.

Neuschnee ist in Nordnorwegen bis weit ins neue Jahr hinein keine Seltenheit. Ende März haben sie aber spürbar auch hier genug von ihm. Während mein Kinderherz einen weiteren Auftritt hat, als ich am frühen Morgen bis zu den Knien in frisch gefallenem Weiß stehe. Zugegeben: Der Nordwind ist frostig. Ich trage zwei Mützen und die Kapuze der Jacke ist eng verschnürt. Das, was von meinem Gesicht zu sehen ist, muss pure Freude sein. Ich stapfe und stapfe, bleibe stehen, schicke den Blick übers satt dunkle Meer. Er landet an der Bergkette gegenüber und wandert zurück. Weiter geht’s! Da, wo sich zwei Kilometer anfühlen wie eine Miniexpedition.
Direktes Sonnenlicht ist heute ein seltener Gast. Wenn er sich zeigt, kooperiert er zuverlässig mit dem neuen Schnee und gemeinsam tun sie, was physikalisch ein einfacher Prozess ist und uns Menschen zu besserer Laune verhilft: Der Schnee reflektiert das Licht. Die Helligkeit hellt die Stimmung auf. Ein wichtiger Faktor hier, wo die Winter lang und kalt und dunkel sind.

Die Natur direkt vor der Haustür

Zusammen mit Stephanie mache ich mich auf den Weg zu einem kleinen Roadtrip. Wir besuchen kreative Menschen an abgelegenen Orten und Kulturorte von Weltrang: Im 200-Seelen-Dorf Skutvik in der Gemeinde Hamarøy wärmen wir uns bei frisch gekochter Topinambursuppe auf. Im Kulturcafé Punjjorda. Der gebürtige Schwede Alfred serviert, seine Frau Lill Marte erzählt von der Vergangenheit des Cafés: „Das Haus wurde lange kirchlich genutzt. Ich ging hier zur Sonntagsschule.“ Heute ist Punjjorda ein bunter, heimeliger Ort, an dem gelacht wird und musiziert.

Andrea C. Bayer

Den ganzen Artikel finden Sie in unserer bewusster leben Ausgabe 6/2024

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